Mein Vater hieß Josef, von allen aber Jupp genannt. Mit seinen 1,67 Metern war er ein eher kleiner Mann, doch sein Körper war kräftig, muskulös und von harter Arbeit geformt. Schon als Junge musste er im Elternhaus täglich anpacken, und körperliche Arbeit begleitete ihn sein ganzes Leben. Mit 17 Jahren wurde er eingezogen, und an seinem 18. Geburtstag geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Drei Monate später kehrte er in sein Heimatdorf zurück und begann in einer Fabrik zu arbeiten – eine Ausbildung war in den frühen Nachkriegsjahren kaum möglich.
Die Fabrik lag im drei Kilometer entfernten Nachbardorf und stellte Wäscheklammern her. Jeden Morgen musste mein Vater querfeldein durch den Wald laufen, der sich über eine Anhöhe erstreckte. Kam er zu spät los, rannte er die gesamte Strecke, um pünktlich zu erscheinen. Jahre später kaufte er sich ein Motorrad und fuhr fortan bei jedem Wetter damit zur Arbeit. Mit 28 heiratete er meine Mutter, und innerhalb von sechs Jahren wurden drei Kinder geboren. In dieser Zeit wechselte er den Arbeitsplatz und blieb bis zu seiner Rente in einer Möbelfabrik.
Mein Vater war überzeugt, dass er sich während der drei Monate im Kriegsgefangenenlager, in dem er mit seinen Kameraden unter freiem Himmel leben musste, eine rheumatische Erkrankung zugezogen hatte. Besonders im Winter und bei feuchtkaltem Wetter plagten ihn Schmerzen in Schultern und Nacken. Oft legte er sich eine Wärmflasche auf die betroffenen Stellen oder rieb sie mit einer stark wärmenden Salbe ein. Den Schmerz beschrieb er mit den Worten, es fühle sich an, „als würde jemand mit einem spitzen Messer im Gelenk herumbohren“. Als Kind fand ich diese Vorstellung furchterregend und hatte Mitleid mit ihm.
Einmal probierte ich die Salbe selbst aus: Erst angenehm warm, wurde sie innerhalb weniger Minuten zu einem brennenden, stechenden Inferno. Meine Haut glühte rot, und ich versuchte verzweifelt, die Salbe mit Wasser und Seife zu entfernen. Später fragte ich meinen Vater, wie er das nur aushalte. Er zuckte die Schultern und sagte trocken: „Gegen die Rheumaschmerzen spüre ich das kaum. Die Wärme tut mir gut.“
In unserem Dorf fanden immer wieder Feste statt – Schützenfeste meist im Zelt, Sänger- oder Feuerwehrfeste sowie Hochzeiten im Saal der einzigen Gastwirtschaft. An eine solche Feier auf dem Saal erinnere ich mich noch heute mit einem Schmunzeln.
Es war ein früher Samstagabend, als meine Eltern „gestiefelt und gespornt“ das Haus verließen und zum Fest gingen. Wir Kinder waren mittlerweile alt genug, um uns bis zu einer vereinbarten Uhrzeit ebenfalls dort aufzuhalten. Eine Drei-Mann-Kapelle spielte ältere und neuere Schlager, gelegentlich auch einen Walzer. Man saß an langen Tischen, trank Bier, Wein oder Schnaps und plauderte über Alltägliches. Bald wagten sich die ersten Männer – vom Alkohol enthemmt und vom Rhythmus animiert – auf die Tanzfläche. Gesellschaftlich gehörte es sich beinahe, im Laufe des Abends mit jeder anwesenden Dame zumindest einmal getanzt zu haben. Und sollte man „versehentlich“ eine übersehen, gab es immer noch die heiß ersehnte Damenwahl.
Mein Vater tanzte leidenschaftlich gern und außergewöhnlich gut. Trotz seiner geringen Körpergröße war er bei den Frauen ein begehrter Tanzpartner – die Damenwahl entging ihm praktisch nie. Und wenn er schwungvoll übers Parkett glitt, waren seine rheumatischen Beschwerden wie weggeblasen. Vorsorglich hatte er sich wie gewohnt zu Hause mit Rheumasalbe eingerieben, um den Abend unbeschwert genießen zu können.
Eine Szene jenes Abends hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt: Eine mir unbekannte Frau, etwa Mitte vierzig, zielstrebig auf meinen Vater zusteuernd, ihn freundlich auffordernd. Sie war etwa so groß wie er, jedoch deutlich fülliger. Ihr Anblick ließ mich an Balzacs hübsche Beschreibung des weiblichen Gesäßes denken, das „durch die Wirbelsäule so kokett in zwei Hälften geteilt ist“.
Mein Vater tanzte sie mit spielerischer Leichtigkeit zu „Schöne Maid“ und „Rosamunde“ über die Tanzfläche. Als ein langsamer Walzer erklang, schien sie förmlich erleichtert – das vorherige Tempo hatte sie sichtlich überfordert. Ihr Kopf war knallrot, Schweißperlen rannen ihr die Schläfen hinunter, und sie klammerte sich beim Walzer dankbar an meinen Vater. Doch kaum begann die Kapelle „Rivers of Babylon“, legte mein Vater wieder los. Die Frau kam kaum noch hinterher.
Nach einer weiteren Runde legte die Kapelle endlich eine Pause ein. Ich sah, wie mein Vater seine erschöpfte Partnerin zur Theke führte und ihr ein großes Glas Wasser spendierte. Sie leerte es in einem Zug. Beide unterhielten sich, und ich bemerkte, dass die Frau wiederholt ihren glühend roten Kopf schüttelte und meinen Vater irritiert ansah. Er hob nur die Schultern und lächelte ratlos.
Am nächsten Morgen, beim Frühstück, fragte ich ihn nach der unbekannten Frau: Warum sie so stark geschwitzt habe, und was sie ihm an der Theke erzählt hätte. Ein breites, verschmitztes Grinsen erschien auf seinem Gesicht. Dann wiederholte er ihre Worte:
„Jupp, ich weiß gar nicht, was mit mir los ist. Mir ist so heiß – und meine linke Wange brennt wie Feuer. Komisch… nur die linke Seite!“
Ich starrte ihn ungläubig an. Er zwinkerte und sagte: „Ich hab ihr nichts von der Rheumasalbe erzählt. Hab’ nur gemeint: ‚Vielleicht fliegende Hitze?!‘“
Unsere ganze Familie brach in schallendes Gelächter aus.
Und wahrscheinlich fragt sich die damals an eine Rotwangenschildkröte erinnernde Dame noch heute, welches ungewöhnliche Feuer der heißblütige Tänzer Jupp damals wohl in ihr entfacht haben mag.
(geschrieben am 10.01.2019 frei nach einer wahren Begebenheit)
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"Fliegende Hitze, Hitzewallung, plötzliches Hitzegefühl des Kopfs oder Körpers ohne Erhöhung der Körpertemperatur, oft begleitet von Schweißausbruch und Hautrötung. Wallungen kommen typischerweise während der Wechseljahre vor und haben keinen Krankheitswert."