Gedichte und Geschichten von Josef Festing
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Hühner
Hühner
(von Josef Festing)

Es gibt wohl kaum etwas Beruhigenderes als das zufriedene Gurren eines Huhnes. Wer, wie ich, mit Hühnern aufgewachsen ist, wird wissen, wovon ich spreche. Solange ich denken kann, waren Hühner für mich so selbstverständlich wie das Gute-Nacht-Gebet. Beides gehörte einfach zum Leben dazu. Schon als kleiner Junge habe ich im Frühjahr die frisch geschlüpften Küken mit Brotkrumen gefüttert. Dabei habe ich mir das Brot oft selbst in den Mund gesteckt, so dass die Küken nicht viel davon abbekamen.



Als ich schon etwas älter war, kam ich auf die Idee, die Welt einmal aus der Perspektive eines Küken zu betrachten. Ich legte mich deshalb ganz vorsichtig auf die Erde, so dass das eine Ohr den Boden berührte. Die Küken liefen um meinen Kopf herum und schauten mir ins Gesicht. Eines von ihnen kam so nah heran, dass es mich fast berührte. Es bewegte seinen Kopf zur Seite und ehe ich mich versah, pickte es mir mit dem kleinen Schnabel direkt auf die Pupille. Ich hätte nie geglaubt, dass ein so kleines Wesen einem so große Schmerzen bereiten kann. Einen ganzen Tag lang spürte ich ein Brennen in meinem Auge, das obendrein unaufhörlich tränte. Aber immerhin wusste ich nun, wie Küken die Welt sahen.



Wenn ich als Kind einmal Langeweile hatte, was zum Glück nicht sehr oft vorkam, setzte ich mich gern an den Zaun des Freigeheges und schaute den Hühnern dabei zu, wie sie in der Erde scharrten und nach Insekten und anderem Getier suchten. Wenn es im Sommer sehr warm war, saß eines von ihnen manchmal in einer ausgescharrten Sandkuhle und schaufelte sich mit seinen Flügeln Staub auf das Gefieder. Ich nahm an, das Hühner dies tun, um Parasiten zu vertreiben, von denen sie des Öfteren heimgesucht werden. Gelegentlich verirrte sich so ein Hühnerfloh auch in die Unterwäsche von uns Kindern, und wir konnten dann auf Grund der zahlreichen Stiche auf der Haut sehr gut nachempfinden, dass unsere gefiederten Haustiere diese blutsaugenden Insekten möglichst schnell wieder loswerden wollten. Aufgegabelt hatte man so einen Hühnerfloh meistens beim Ausnehmen der Nester. Und dies war gelegentlich auch schon mal meine Aufgabe oder die meiner Geschwister, besonders dann, wenn unsere Mutter beim Kochen oder Backen mal schnell ein Ei benötigte. Der Hühnerstall befand sich in einem kleinen Anbau am Hintereingang des Hauses. Man ging durch eine kleine Holztür und stand dann unmittelbar vor einem Verschlag, der mit einer länglichen Holzklappe versehen war. An diesem Holzbrett befanden sich zwei Scharniere, die es erlaubten, es nach unten aufzuklappen. Dahinter befanden sich vier Nester aus Stroh, in denen die Hennen ihre Eier legten. In der Früh hörte man daher oft im ganzen Haus das laute Gackern eines Huhnes bei der Eiablage. Lange Zeit dachte ich, dass ein Huhn erst gackert und dann sein Ei legt, aber es ist genau umgekehrt. Der eigentliche Hühnerstall war ein wenige Quadratmeter großer Raum, in dem sich mehrere Holzstangen befanden, die quer durch den Raum führten und treppenähnlich angebracht waren. Auf diesen Sitzstangen saß das Federvieh nach Einbruch der Dunkelheit und verbrachte dort die Nacht. Die obere Stange an der hinteren Wand war die begehrteste und schien stets den ranghöheren Tieren vorbehalten zu sein. Wenn die Hühner ihre Schlafplätze eingenommen hatten, war es wichtig, das Eingangsloch zum Hühnerstall zu verschließen, um zu verhindern, dass ein Marder oder anderes Raubzeug in der Nacht eindringen konnte. Hierzu musste man eine Schnur betätigen, die an der Innenwand des Stalls entlang führte und dafür sorgte, dass sich ein daran befindliches Holzbrett vor das Eingangsloch schob. Am nächsten Morgen ließ sich das Loch auf dieselbe Weise wieder öffnen.


Foto: Reinhard Festing

Hühner gab es auf dem Dorf in fast jedem Haushalt, denn sie waren in der Regel sehr genügsam und dienten den Dorfbewohnern als Eier- und Fleischlieferant. Man fütterte sie hauptsächlich mit Resten von Lebensmitteln, die bei den Mahlzeiten übrig geblieben waren. Zusätzlich wurde noch spezielles Hühnerfutter hinzugefügt, das aus mit Fischmehl angereicherten Weizen- und Maiskörnern bestand. Mein Vater besorgte im Frühjahr gelegentlich zwei oder drei Jungtiere von einem Geflügelmarkt, um den Bestand aufzufrischen. Es handelte sich dabei meistens um „Italiener“. Die so bezeichnete Hühnerrasse galt als sehr zutraulich und zeichnete sich durch eine gute Legeleistung aus. Erfahrungsgemäß ließ diese bei Hühnern mit zunehmendem Alter erheblich nach, so dass die älteren Tiere dann geschlachtet wurden und in den Kochtopf wanderten. Der im Schuppen stehende „Hackeklotz“, ein ca. ein Meter hoher Baumstamm, der normalerweise als Auflagefläche zur Spaltung von Brennholz diente, wurde zu diesem Anlass kurzerhand zweckentfremdet. Mein Vater holte diesen Holzklotz dann wie üblich aus dem Schuppen heraus und stellte ihn im Freien auf einer ebenen Stelle im Hof auf. Anschließend zog er sich einen grauen Kittel über und schickte sich an, ein in die Jahre gekommenes Huhn aus dem Freigehege zu fangen. Die Hühner waren an den Füßen mit verschiedenfarbigen Ringen markiert und jede Farbe stand für eine Jahreszahl. Auf diese Weise wusste er stets, welches Huhn wie alt war, es sei denn, er hatte die Reihenfolge der Farben vergessen, was durchaus vorkam. Wenn er das vermeintlich älteste Huhn schließlich erwischt hatte, nahm er es in beide Hände, ging damit zur Schlachtstelle und betäubte das Tier. Dies geschah, indem er den Kopf des bedauernswerten Geschöpfes mit Wucht auf die Kante des Holzklotzes schlug. Dadurch war das Schlachtopfer für einige Sekunden bewusstlos. Diesen kurzen Zeitraum nutzend, nahm er die zuvor bereit gelegte Axt in seine rechte Hand, führte sie nach oben und ließ sie mit hoher Zielgenauigkeit nach unten schnellen, um das Huhn mit scharfer Klinge zu guillotinieren, sprich einen Kopf kürzer zu machen. Dass dies immer eine recht blutige Angelegenheit war - deshalb auch der graue Kittel - muss wohl nicht gesondert erwähnt werden. Einerseits schockierte mich die brutal anmutende Handlungsweise meines Vaters, andererseits aber bewunderte ich ihn auch für seinen Mut und seine Entschlossenheit. Niemals hätte ich mir vorstellen können, es ihm auf diese Weise gleichzutun.

Das geschlachtete Huhn wurde dann, nachdem es vollständig ausgeblutet war, meiner Mutter zur weiteren Verarbeitung überreicht. Nähere Einzelheiten über das Rupfen und Ausnehmen eines Huhnes erspare ich mir an dieser Stelle. Stattdessen möchte ich lieber noch einmal den „Hackeklotz“ in den Fokus des Geschehens rücken. Nachdem dieser nun schon einmal draußen stand, sollte er nach Ansicht meines Vaters auch immer gleich noch eine weitere, für meinen Bruder und mich äußerst unliebsame, Funktion erfüllen, nämlich die eines Frisörstuhles. Etwa alle zwei bis drei Wochen, meistens an einem Samstag, wurden uns die Haare geschnitten. Der Umstand, dass ich heute noch wenig Lust auf Frisörbesuche verspüre - mein Bruder hat schon vor Jahren gänzlich Abstand davon genommen - schreibe ich noch immer in gewissem Maße den damals gemachten Erfahrungen zu. Nicht, dass der vom Schlachten oft noch blutverschmierte Holzklotz uns in irgendeiner Weise beeindruckt hätte, nein, es war vielmehr die Haarschneidemaschine, die uns das Fürchten lehrte.



Mein Vater hatte sich speziell für diese Zwecke ein handbetriebenes Haarschneidegerät gekauft, welches er, in erster Linie wohl um kostspielige Frisörbesuche seiner Söhne einzusparen, in regelmäßigen Abständen an unseren Köpfen zum Einsatz brachte. Diese Maschine, Gott weiß wer sie erfunden hat, hatte drei gravierende Nachteile: sie verursachte zuweilen höllische Schmerzen, insbesondere dann, wenn der Scherkopf im Eifer des Gefechts durch den Benutzer zu schnell am Kopf des zu Frisierenden gegen den Strich nach oben geschoben wurde, ohne gleichzeitig die rhythmischen Scherbewegungen mit den in der Hand befindlichen Metallbügeln auszuführen. Denn dies war für einen im wörtlichen Sinne reibungslosen Schneidevorgang unbedingt erforderlich, was meinem Vater allen Bemühungen zum Trotz nicht immer gelang. Ziepende Schmerzen, die einem die Tränen in die Augen schießen ließen, waren die Folge und man wünschte sich fast, man wäre wie das geschlachtete Huhn zuvor auf ähnliche Weise betäubt worden. Darüber hinaus erzielte man mit diesem Gerät eine Frisur, die gerade zu Zeiten, in denen die Beatles und die Rolling Stones populär waren, nicht unbedingt überschäumende Begeisterungsstürme bei der jüngeren Generation hervorriefen. Im Gegenteil, das Ansehen in der Klasse sank umgekehrt proportional mit der Höhe des Haarkranzes. In der heutigen Zeit ist dies erstaunlicher Weise genau umgekehrt. Und zu guter Letzt fühlte man sich nach überstandener Haarschneide-Prozedur immer wie ein geschorenes Schaf, das fröstelnd und verloren auf einer Wiese steht. Noch heute spüre ich eine Art Gummiring oder imaginäre Hutkrempe um den Schädel, wenn ich an die frisch geschnittenen Haare von damals denke.



Doch nun wieder zurück zum eigentlichen Thema, den Hühnern. Die schönsten Erinnerungen habe ich, wie könnte es anders sein, an Erlebnisse mit kleinen Küken. Im Frühjahr war es bei uns nicht ungewöhnlich, wenn ein Huhn „glucksch“ wurde. Diesen Begriff verwendete meine Mutter für einen Zustand, bei dem eine Henne nichts anderes mehr im Kopf hatte, als zu brüten. An sich ist das ja eine gute Sache und von der Natur auch nicht anders gewollt. Jedoch war es nicht günstig, wenn mehr als ein Tier im Stall zum selben Zeitpunkt unter derartigen hormonellen Einflüssen stand, denn man wollte ja nicht unbegrenzt Nachkommen produzieren. Eine „glucksche“ Henne fiel zudem als täglicher Eierproduzent aus und das wochenlange Brüten zehrte erheblich an ihren Kräften und war somit ihrer Gesundheit nicht gerade zuträglich. Je später man feststellte, dass eine Henne gluckte, umso schwieriger war es, ihr dieses Verhalten wieder abzugewöhnen. Saß sie erst einmal fest auf ihrem Gelege, setzte sie auch alles daran, es auszubrüten. Jeder Versuch, sie vom Nest zu verscheuchen, schlug dann fehl, so dass sie schon nach wenigen Minuten wieder auf den Eiern hockte und ihr typisches „gluck, gluck“ von sich gab.

Auch bei uns kam es gelegentlich vor, dass zwei Hennen gleichzeitig brüten wollten. Meine Mutter musste dann die Entscheidung treffen, welche von ihnen das Brutgeschäft erledigen durfte und welche die unerfreuliche Prozedur einer „Entgluckung“ über sich ergehen lassen musste. Hierbei gab es zwei Methoden, eine sanfte und eine aus heutiger Sicht ziemlich rustikale. Erstere bestand darin, dass der brütenden Henne ihre Eier sozusagen unter dem Hintern weggenommen und durch Gipseier ersetzt wurden. Anschließend durfte sie dann solange weiter brüten bis ihr die Lust dazu verging. Dies konnte aber durchaus einige Wochen dauern und führte zu dem weiter oben beschriebenen Kräfteverschleiß des Tieres. Meine Mutter entschied sich daher meistens für die schneller wirkende, für das „glucksche“ Huhn allerdings weitaus unangenehmere Methode. Sie steckte es kurzerhand in einen Leinensack und hängte diesen für mehrere Tage an einem Nagel an der Wand auf. Ob die Entgluckung erfolgreich war, ließ sich nach der Freilassung der Henne sehr schnell an ihrem Verhalten ablesen. Suchte sie in relativ kurzer Zeit wieder eines der Nester im Hühnerstall auf, musste sie noch einmal in den Sack zurück. Als Kind habe ich mir damals wenige Gedanken über diesen doch sehr grausamen Entwöhnungsprozess gemacht, nur den, dass ich selbst nicht in dem dunklen Sack hätte stecken mögen. Die Glucke, die für das Brüten ausgewählt worden war, meist handelte es sich um ein ruhiges und zutrauliches Tier, saß nun fest auf ihrem aus etwa zwölf Eiern bestehenden Gelege. Der Brutvorgang machte allerdings nur Sinn, wenn die Eier auch befruchtet waren, es also einen Hahn im Stall gab, der dieser Aufgabe im Vorfeld zuverlässig nachgekommen war. Und einen Hahn, der dieses Prädikat verdiente, hatten wir in all den Jahren eigentlich immer. Während der Brutzeit, die etwa drei Wochen dauerte, verließ die Glucke nur sehr selten ihr Gelege und das auch nur, um ihre Notdurft zu verrichten und sich eilig mit Nahrung und Flüssigkeit zu versorgen, um dann schnell wieder ins Nest zurückzukehren und geduldig ihrer stumpfsinnigen Arbeit nachzukommen. Doch bevor sie sich wieder auf die Eier hockte, drehte sie sie häufig noch einmal behutsam mit ihrem Schnabel um und schob die weiter außen liegenden in die Mitte des Nestes. Dann saß sie wieder und gluckte vor sich hin. So vergingen die Tage. Von Zeit zu Zeit schaute ich nach der Glucke, um zu sehen, ob sich schon etwas tat im Nest. Wenn der Termin des Schlüpfens näher rückte, nahm meine Mutter auch schon mal vorsichtig ein Ei aus dem Gelege und hielt es mir und meinen Geschwistern ganz nah ans Ohr. Mit etwas Glück konnte man ein zartes Piepen darin wahrnehmen. Danach schob sie das warme Ei der Bruthenne ganz behutsam wieder unter. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als ich eines Tages aus der Schule kam und meine Neugierde mich schnurstracks in den Hühnerstall führte. Mit äußerster Vorsicht öffnete ich die längliche Holzklappe, hinter der sich die Strohnester befanden, auch das der brütenden Glucke. Angestrengt horchte ich, ob vielleicht schon leise Pieptöne von geschlüpften Küken zu vernehmen waren. Aber alles blieb ruhig. Die Glucke schaute mich nur bedächtig an, machte jedoch keine Anstalten mir einen flüchtigen Blick unter ihr Gefieder zu gestatten. Deshalb führte ich, den Atem anhaltend, meine rechte Hand ganz sacht an den Rand des Nestes und versuchte, die Federn der Glucke ein wenig nach oben zu schieben. Just in diesem Moment spürte ich an meinem Rücken eine sonderbare Bewegung. Wie vom Donner gerührt, zuckte ich zusammen, was ein lautes und aufgeregtes Flattern nach sich zog. Der Schrecken war mir förmlich in die Glieder gefahren, und es dauerte eine ganze Weile bis ich wusste was passiert war. „Du blödes Vieh!“ schrie ich mit einer in mir aufkommenden Gefühlsmischung aus Wut und Erleichterung. An das „glucksche“ Huhn im Sack hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht. Ich muss dem armen Tier, das ja nichts dafür konnte, im Sack an der Wand zu hängen, bei meinem neugierigen Versuch, eventuell geschlüpfte Küken als erster zu entdecken, anscheinend etwas zu nahe gekommen sein. Wer sich hierbei mehr erschreckt hat, das Huhn oder ich, kann ich nicht sagen. Ich weiß nur eins, niemals wieder ist mir das Herz tiefer in die Hose gerutscht als damals in diesem Hühnerstall.



Im darauffolgenden Jahr, wieder war Frühling und wieder saß eine Glucke auf einem Dutzend befruchteter Eier, lag ich morgens etwas länger im Bett. Ich konnte ausschlafen, weil die Ferien begonnen hatten. Während ich so vor mich hindämmerte, nahm ich nur im Unterbewusstsein wahr, dass sich die Tür zum Schlafzimmer leise öffnete und jemand das Zimmer betrat. Im nächsten Moment war ich aber schon wieder eingedöst. Sekunden später ließ mich jedoch ein merkwürdiges Gefühl auf meinem Bauch schlagartig aus dem Schlummer erwachen. Jemand hatte mir die Decke weggezogen, das Oberteil meines Schlafanzugs nach oben geschoben und mir etwas Warmes auf den nackten Bauch gelegt. Mit noch geschlossenen Augen wollte ich danach greifen, doch fremde Hände hielten meine Handgelenke fest und hinderten mich daran. Ich riss meine Augen auf und erkannte sogleich die vertrauten Gesichtszüge meiner Mutter. Erstaunt blickte ich sie an. Sie lächelte. Auf meinem Bauch spürte ich eine Bewegung, die mich augenblicklich nach unten schauen ließ. Ein hellbraunes flauschiges Knäuel mit gelblichem Schnabel und kleinen Krallen versuchte in Höhe meines Bauchnabels, mühsam die Balance zu halten. Meine Mutter löste nun langsam ihren Griff um meine Handgelenke, denn die Gefahr, dass ich das kleine Wesen vor Schreck hätte verletzen können, schien ihrer Meinung nach gebannt zu sein. Vorsichtig nahm ich das erst wenige Stunden zuvor geschlüpfte Küken in meine Hand und führte es an meine rechte Wange. Es fühlte sich unglaublich an, weich und flauschig, einfach unbeschreiblich. Ein schöner Ferientag hatte begonnen. Und wer kann schon von sich behaupten, jemals auf eine solch ungewöhnliche Weise geweckt worden zu sein?!

Im Laufe des Tages war ein Großteil der Küken geschlüpft. Es gab nur noch zwei, drei Nachzügler, die in ihren Eiern verharrten und von der Glucke weiterhin bebrütet wurden. Um den Schlupfvorgang ein wenig zu unterstützen, nahm meine Mutter manchmal ein schon angepicktes Ei in die Hand und leistete dem darin befindlichen Küken sozusagen Geburtshilfe, indem sie mit ihren Fingern ganz vorsichtig etwas Eischale entfernte. Dann legte sie das Ei wieder unter die Glucke und wartete, bis sich das kleine Wesen seiner Eischale vollständig entledigt hatte. Noch ganz feucht und völlig erschöpft lag es dann im Nest und musste erst einmal wieder zu Kräften kommen. Wenn es draußen noch sehr kalt war, wurde die Glucke samt ihrer Küken in einen Schuhkarton verfrachtet, ins Wohnzimmer geholt und hinter den warmen Kohleofen gestellt. Denn Wärme war nach Aussage meiner Mutter das Wichtigste für junge Küken in ihren ersten Lebenstagen. Wir Kinder fanden das natürlich toll, die niedlichen Tiere den ganzen Tag aus der Nähe beobachten zu können. Ob es danach einen signifikanten Anstieg von Flohstichen auf unseren Körpern gab, ist nicht überliefert.

Bei warmer Witterung kamen die Küken mit der Glucke in eine Art Drahtgestell, das an der Unterseite offen war und an einem sonnigen Platz auf der Wiese aufgestellt wurde. Bei Bedarf konnte dieses käfigartige Gehege an eine andere Stelle gerückt werden, an der das Gras noch frisch und zart war. Die Glucke kümmerte sich sehr fürsorglich um ihre Jungen, und es bereitete einem stets Freude, diesem munteren Treiben zuzuschauen. Einmal geschah etwas Außergewöhnliches. Mein Vater hatte Wochen zuvor drei Zwerghühner und einen dazugehörigen Hahn mit nach Hause gebracht. Die Eier dieser Hühnerrasse waren zwar nur halb so groß wie die von gewöhnlichen Hühnern, schmeckten aber ganz vorzüglich. Außerdem waren diese Tiere sehr hübsch und sie vertrugen sich bestens mit den anderen Hühnern. Das Freigehege, in denen sich unser Federvieh tagsüber aufhielt und nahezu unaufhörlich nach Fressbarem in der Erde scharrte, grenzte unmittelbar an das Nachbargebäude. Mein Vater hatte dort mit Erlaubnis des Nachbarn mehrere noch gut erhaltene alte Telefonmasten gegen das Haus gelehnt, die er als Pfosten für einen Schuppenanbau verwenden wollte. Die Hühner nutzten diese eng beieinander stehenden Pfeiler bei Regen oft als Unterstand oder gelegentlich auch als Sonnenschutz. Eines Tages wollte meine Mutter den Hühnern gerade die Reste unseres Mittagessens hinwerfen, als sie zahlreiche kleine Vögel entdeckte, die zwischen ihren Füßen herumliefen. Aufgeregt rief sie nach uns mit den Worten: „Kinder, kommt mal schnell zu mir, hier sind ganz viele junge Spatzen auf der Erde!“ Wir eilten zu ihr, um die vermeintlich aus dem Nest gefallenen Jungvögel zu betrachten. Meine Mutter zeigte mit ihrer rechten Hand in Richtung der Holzmasten und sagte fast ungläubig: „Da sind ja noch viel mehr!“ In diesem Moment schritt ein Zwerghuhn gemächlich hinter den Holzstämmen hervor, gefolgt von einer Schar winziger Küken. Auch die übrigen, von uns irrtümlicherweise für junge Spatzen gehaltenen Zwergküken, liefen nun geradewegs zu ihrer Mutter, die sie mit eifrigen Glucklauten zu sich lockte. Ich weiß nicht mehr, was mein Herz bei diesem Anblick mehr bewegte, die vielen niedlichen Küken oder die Erkenntnis, dass die Glucke ihre Brut gänzlich unbemerkt und ohne Schutz vor nächtlichen Gefahren in ihrem behelfsmäßigen Unterschlupf unbeschadet durchgebracht hatte. Eine unglaubliche Leistung, wie ich fand. Wir hatten große Mühe, die genaue Anzahl der Küken zu ermitteln, weil diese wie aufgezogen ständig umherliefen. Es waren, wie sich schließlich herausstellte, nicht weniger als fünfzehn! Ein Zwerghuhnküken allein ist an Liebreiz schon kaum zu übertreffen, aber fünfzehn von diesen flauschigen kleinen Dingern sind noch einmal eine ganz andere Nummer. Ich bin überzeugt davon, dass meine bis heute ungebrochene Liebe zu Hühnern auch mit diesem Erlebnis zu tun hat. Meine Kindheit wäre ohne diese Tiere ein ganzes Stück ärmer gewesen.


Braunschweig, den 14.02.2021



 
   
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