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Schusters Rappen - Wie im Rausch - Altersweisheit |
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Schusters Rappen
(von Josef Festing)
Ein schöner Herbstnachmittag, den wir gemeinsam mit unserer Tochter und unserem Enkel im Garten verbracht hatten, ging langsam zu Ende. Nachdem Nora und Michael gegen 17:00 Uhr aufgebrochen waren, fragte Ute mich, ob ich nicht noch Lust auf einen kleinen Spaziergang hätte. Die milde Luft und mein Bedürfnis nach etwas Bewegung ließen mich gerne zustimmen. Normalerweise schlugen wir bei unseren Spaziergängen am Ende unserer Straße den Weg nach links ein, um über eine kleine Brücke ins Uni-Gebiet und von dort ins Grüne zu gelangen. Doch dieses Mal zog Ute mich mit einem entschlossenen Griff nach rechts in Richtung Innenstadt.
„Ich möchte mir schnell ein paar neue Hausschuhe kaufen“, erklärte sie. „Gleich hier um die Ecke gibt es einen kleinen Laden, das dauert nicht lange.“
Ich kannte das Geschäft; es lag nur rund 200 Meter entfernt. Trotzdem war meine Zustimmung eher widerwillig - allerdings mit der klaren Bedingung, dass ich nicht mit hineinkommen würde. Schuhkäufe sind mir nämlich ein Gräuel. Nicht nur, weil ich wenig Verständnis dafür habe, laufend neue Schuhe zu kaufen, obwohl die alten noch völlig in Ordnung sind, sondern auch, weil unser ohnehin schon mehr als gut gefüllter Schuhschrank längst aus allen Nähten platzt. Und der Anteil meiner Schuhe ist dabei verschwindend gering. Doch ein paar Hausschuhe mehr machen den Kohl jetzt auch nicht mehr fett, dachte ich mir.
Während Ute den kleinen Schuhladen betrat, überquerte ich die Straße und ließ mich auf der gegenüberliegenden Seite auf der Bank einer Straßenbahnhaltestelle nieder. Die untergehende Sonne tauchte den Platz in warmes Licht, und ich genoss die angenehme Wärme auf meiner Haut. Hier konnte man es eine Weile aushalten - zumal ich den Eingang des Geschäfts gut im Blick hatte.
Ich zog mein Handy aus der Jackentasche, öffnete die Kicker-App und vertiefte mich in die neuesten Nachrichten aus der Fußballwelt. Eine Viertelstunde verging, bevor ich erstmals aufsah und einen Blick zum Laden warf. Keine Bewegung - doch das überraschte mich nicht.
Ute hatte eben ihre ganz eigene Art einzukaufen: Begeisterte sie sich für ein Paar Schuhe, mussten erst einmal zwei oder drei Alternativen anprobiert werden, nur um am Ende doch zur ursprünglichen Wahl zurückzukehren. Und das brauchte nun mal seine Zeit, vor allem, weil die Vor- und Nachteile jedes Modells ausführlich mit dem Verkaufspersonal erörtert werden mussten.
Ich erinnerte mich in diesem Moment an eine Szene vor etwa einem Jahr, als Ute aus der Stadt zurückkam und mir voller Begeisterung ein Paar bordeauxfarbene Schuhe präsentierte. „Ein Traum! Exquisites Leder, filigrane Verarbeitung. So weich, dass man keine einzige Druckstelle spürt. Einfach genial!“, schwärmte sie.
Doch vor ein paar Wochen tauchten die Schuhe wieder auf, diesmal mit einem ganz anderen Urteil. „Das Leder ist ganz rau geworden und löst sich irgendwie auf“, stellte sie nüchtern fest. „Die kann ich wohl wegwerfen!“
Von meinen Schuhen trenne ich mich dagegen nicht so leicht. Die wenigen Paare, die ich besitze, behandle ich mit größter Sorgfalt, nicht etwa, weil ich sie so schön finde, sondern wegen der Blasen, die mir neue Schuhe beim Einlaufen immer wieder bereiten. Und darauf kann ich gern verzichten! Deshalb schone ich meine Schuhe, so gut es geht. Wenngleich ich meine ledernen Halbschuhe auch nur noch bei trockenem Wetter tragen kann, weil sie bereits Löcher in den Sohlen haben, käme es mir trotzdem nie in den Sinn, sie wegzuwerfen. Sie sind einfach super bequem, als wären es Hausschuhe.
Apropos Hausschuhe. Inzwischen war mehr als eine halbe Stunde vergangen, seit Ute den Laden betreten hatte. Die Sonne war hinter den Dächern verschwunden, und eine kühle Brise ließ mich frösteln. Doch nun tat sich etwas: Ein Mitarbeiter trat vor die Tür und besprühte ein Paar Schuhe mit einer Spraydose, bevor er wieder im Geschäft verschwand. Ich erhob mich und ging langsam auf den Laden zu, in der Annahme, dass es sich um Utes neu erworbene Hausschuhe handelte und sie gleich nach dem Bezahlen herauskommen würde. Doch ich lag falsch. Es vergingen
weitere zehn Minuten, bis sie schließlich mit einer großen Einkaufstasche in der Hand aus dem Geschäft trat.
„Warum hat das denn so lange gedauert?“, fragte ich mit einem Hauch von Vorwurf in der Stimme. „Der Verkäufer hat mich einfach großartig beraten“, entgegnete Ute begeistert. „Und? Warst du erfolgreich? Hast du die perfekten Hausschuhe gefunden?“, hakte ich nach. Ein knappes „Ja“ war ihre Antwort. „Und? Costa quanta?“ „Das verrate ich nicht!“, erwiderte sie mit einem gequälten Lächeln. „Nun sag‘ schon, was du ausgegeben hast!“, insistierte ich. Ute zögerte ein wenig, doch schließlich sagte sie: „Vierhundertdreißig Euro!“
Meine Mundwinkel klappten nach unten. „Nicht dein Ernst, oder? Vierhundertdreißig Euro für ein paar dumme Hausschuhe?“, platzte es nun aus mir heraus. „Ich glaub’s ja nicht. Bist du irre?!“ „Ich habe mir dazu ja auch noch ein paar Gesundheitsschuhe gekauft. Die Hausschuhe haben nur hundertdreißig Euro gekostet“, versuchte sie mich zu beschwichtigen. „Ach, doch so günstig, ein echtes Schnäppchen“, kommentierte ich trocken.
Der anschließende Spaziergang verlief deutlich schweigsamer als sonst. Dass Ute die neuen Schuhe nach dem Kauf gleich angelassen hatte, war mir überhaupt nicht aufgefallen. Wer achtet schon auf Schuhe?!
Einige Tage später machten wir mit Nora und Michael eine Fahrradtour, die unserem Enkel zuliebe auf einem Spielplatz enden sollte. Dort angekommen, mussten wir enttäuscht feststellen, dass er gesperrt war. Ein Schild warnte ausdrücklich davor, das Gelände zu betreten, und wies darauf hin, dass Zuwiderhandlungen als Ordnungswidrigkeit geahndet würden. Dennoch spielten mehrere Kinder vergnügt auf den Geräten - offenbar hatte jemand den Absperrzaun zur Seite geschoben und den Zugang freigegeben.
Nach kurzem Zögern entschieden wir uns, das Verbot zu ignorieren. Es war Sonntag - wer sollte das schon kontrollieren? Ich ging voraus und steuerte eine in den Boden eingelassene Trampolinscheibe an. Die Sprungfläche bestand aus bunten Segmenten, und ohne lange nachzudenken, stellte ich mich auf das orangefarbene Feld.
Kaum verlagerte ich mein Gewicht, sanken meine Füße ein und standen plötzlich im Wasser. Unter der Trampolinfläche hatte sich Regenwasser gesammelt, das nun meine Schuhe umspülte. Erschrocken sprang ich zur Seite und starrte fassungslos auf meine Füße. Nora grinste breit.„Papa, hast du etwa wieder deine Lochschuhe an?“, fragte sie schelmisch. Ich nickte und seufzte. „Natürlich, es regnet doch nicht!“ in der Tat hatte das Wasser mühelos seinen Weg durch die löchrigen Sohlen gefunden und meine Schuhe komplett durchnässt.
Ute, die mein Missgeschick aus der Ferne beobachtet hatte, warf mir einen triumphierenden Blick zu. Sie trug ihre neuen Schuhe und streckte mir nun den linken Fuß demonstrativ entgegen - ein süffisantes Lächeln auf den Lippen, als wollte sie sagen: „Siehst du? Mit solchen Schuhen wäre dir das nicht passiert. Teuer, aber wasserdicht!“
(geschrieben am 10.02.2025)
Wie im Rausch
(von Josef Festing)
Im Grunde meines Herzens war ich wohl schon immer ein Messi, wobei ich hier nicht den weltberühmten Fußballer meine, sondern meinen ausgeprägten Hang zum Sammeln und Aufbewahren von Gegenständen jeglicher Art. Schon als Kind habe ich mich gern auf dem dorfeigenen Schrottplatz aufgehalten, um nach brauchbaren Objekten Ausschau zu halten. Gemeinsam mit meinem jüngeren Bruder und einem Freund aus der Nachbarschaft sammelte ich alles, was sich auf irgendeine Weise zum Spielen eignete. Ein Rädchen aus einer alten Uhr, das sich mühelos zu einem Kreisel umfunktionieren ließ, war ebenso begehrt wie die Räder eines ausrangierten Kinderwagens, die man für den Bau einer Seifenkiste verwenden konnte. Diese Vorliebe zieht sich seither wie ein roter Faden durch mein Leben. Als Student bestand das Mobiliar meiner Unterkunft zu einem großen Teil aus gefundenen Sperrmüllobjekten. Ohnehin hat Sperrmüll eine ähnliche Anziehungskraft auf mich wie ein frischer Hundehaufen auf eine Schmeißfliege. Ich kann einfach nicht daran vorbeigehen, ohne nachzuschauen, ob nicht vielleicht jemand aus reiner Unkenntnis einen wertvollen Gegenstand zur Entsorgung auf die Straße gestellt hat. Die sensationelle Meldung, dass ein Student in Köln einmal ganz zufällig einen echten „Spitzweg“ im Wert von 500.000 € in einem Sperrmüllhaufen entdeckt hat, war nicht unbedingt dazu angetan, diesen Drang in irgendeiner Weise abzuschwächen. Noch verstärkend wirkte sich die in den letzten Jahren immer häufiger zu beobachtende Angewohnheit einiger Mitbürger auf mich aus, nicht mehr benötigte Haushaltsgegenstände und sonstigen Trödel in einem Pappkarton mit der Aufschrift „Zu Verschenken“ an die Straße zu stellen. Jeder noch so kleine Spaziergang in der Stadt fühlt sich seither für mich an wie „Ostereier suchen“. Überall könnte ja eins am Straßenrand versteckt sein. Meine Frau kann dieser Eigenart von mir allerdings überhaupt nichts abgewinnen. Im Gegenteil, immer wenn ich einen Karton auf dem Bürgersteig erspähe und im Begriff bin, darauf zuzusteuern, lässt sie augenblicklich meine Hand los und tut so, als gehöre ich nicht zu ihr. Das kann ich auch irgendwie verstehen, denn es sieht ja nicht gerade vornehm aus, in Sachen herumzuwühlen, die jemand anderes als überflüssig erachtet. Zu meiner Ehrenrettung muss ich allerdings erwähnen, dass ich dabei schon so einiges entdeckt habe, von dem selbst Ute nach späterer Begutachtung durchaus angetan war. Und es ist ja keineswegs so, dass ich alles mitschleppe, was nicht niet- und nagelfest ist. Jedenfalls nicht alles! Wenn ich auch bisher noch keinen Original-Spitzweg oder Caspar David Friedrich aufgestöbert habe, so befindet sich unter meinen Fundstücken doch so manche Kostbarkeit, die Horst Lichter bei der Sendung „Bares für Rares“ wohl in Erstaunen versetzt und zum Zwirbeln seines markanten Schnauzbartes gebracht hätte. Und das Schönste ist, dass ich mich über ein gefundenes Teil wesentlich mehr freue, als wenn ich es gekauft hätte. Manchmal glaube ich, dass ich so eine Art Goldgräber-Gen besitze, wie die Abenteurer, die Ende des 19. Jahrhunderts in Alaska am Klondike-River wie im Rausch nach Nuggets geschürft haben. Ich bin sicher, dass beim Goldsuchen ähnliche Hirnareale angesprochen werden wie beim Stöbern in Pappkartons und dem Durchforsten von Sperrmüllhaufen.
Nun, wie dem auch sei. Es war Ende März, als Ute und ich mal wieder einen ausgiebigen Spaziergang durch die Straßen von Braunschweig machten. Das Wetter war schön, doch die Luft war noch recht kalt, so dass Ute ihre linke Hand in die rechte Seitentasche meiner Lederjacke gesteckt hatte, um sich an meiner Hand zu wärmen. Wir waren schon eine ganze Weile unterwegs, hatten uns an den zahlreichen Frühlingsblumen in den Vorgärten erfreut und uns dabei angeregt über dieses und jenes unterhalten. Als wir nun in eine Seitenstraße abbogen, nahm ich schon von weitem einen auffälligen Gegenstand auf einer hüfthohen Mauer wahr, die am Bürgersteig entlang führte und den Garten eines Mehrfamilienhauses begrenzte. Beim Näherkommen erkannte ich, dass es sich um einen sehr schönen Porzellanbecher handelte, der ein edles Design aufwies und filigran gearbeitet war. Als Ute bemerkte, dass ich mich zielgenau darauf zubewegte, glitt ihre Hand blitzartig aus meiner Jackentasche und ihr Schritt verlangsamte sich merklich. Wenige Augenblicke später griff ich nach dem Gefäß und fühlte sogleich das glatte und dünnwandige Porzellan, das wie Geschmeide in meiner Hand lag. Ich meinte sogar, eine angenehme Wärme an dem exquisiten Stück wahrzunehmen. „Die ist wunderschön, Ute, die nehme ich mit,“ verkündete ich meiner Frau voller Begeisterung. „Hallo, Sie da. Was machen Sie mit meiner Kaffeetasse?“, vernahm ich plötzlich eine aufgeregte weibliche Stimme. Im gleichen Moment sah ich in etwa zehn Metern Entfernung eine junge Frau zwischen zwei parkenden Autos hervortreten, die nun forschen Schrittes auf mich zukam und mir den Becher unwirsch aus der Hand riss. „Da stellt man mal kurz seinen Kaffeebecher auf die Mauer, um seine Zigarette auszumachen und schon wird er einem geklaut,“ zischte sie und streckte mir zum Beweis einen ausgedrückten Zigarettenstummel entgegen. „Ähm, tut mir leid, ich …. ich dachte, ähm, dass, …. ich wusste doch nicht … “, stotterte ich verlegen. Ute, die langsam näher gekommen war und die peinliche Szene beobachtet hatte, würdigte mich keines Blickes, ging schnurstracks an mir und der jungen, noch immer aufgebrachten, Frau vorüber, ohne auch nur einen Ton von sich zu geben. Ich stammelte noch einige entschuldigende Worte und hatte anschließend Mühe, meine davon stürmende Frau einzuholen. Als ich ihre Hand ergriff und sie wieder in meine Jackentasche schieben wollte, sträubte sie sich und zog ihre Hand missmutig zurück. Sie schien äußerst ungehalten und ich beschloss, erst einmal nichts zu sagen, um sie nicht noch mehr zu vergraulen. Hatte ich sie doch mit meiner Marotte in eine sehr unangenehme Situation manövriert, der sie sich nur mit Geschick entziehen konnte. So gingen wir einige Minuten schweigend nebeneinander her. - Eine dämliche Unterlegscheibe war es schließlich, die mein Schicksal endgültig besiegelte. Sie lag plötzlich da auf dem Bürgersteig. Ich bückte mich nach ihr, um sie aufzuheben und sie später meiner ausschließlich aus Fundstücken bestehenden Schrauben- und „Pinökel“-Sammlung zuzuführen. Ein fataler Fehler, wie sich sogleich herausstellte. Schwelten die offensichtlich schon seit langem angestauten Emotionen bei Ute bislang noch im Untergrund, so traten sie durch meine unbedachte Handlung in der ohnehin schon aufgeheizten Stimmung nun mit aller Macht offen zutage. Auf dem Nachhauseweg musste ich mir zu meinem Leidwesen daher einige sehr unliebsame Sprüche von ihr anhören. Die Begriffe „Sockenschuss“ und „hirnverbrannt“ sind mir noch nachhaltig in Erinnerung geblieben. Doch so sehr ich Utes Unmut nachvollziehen konnte, höre ich tief in meinem Inneren heute immer noch diesen einen, unverwechselbaren Ruf: den Lockruf des Goldes!
(geschrieben am 31.01.2024)
Schrauben- und "Pinökel-Sammlung"

Altersweisheit
(von Josef Festing)
Wenn ich in den letzten Jahren meinem fortschreitenden Alterungsprozess mehr oder weniger durch Ignoranz begegnet bin, so habe ich inzwischen doch die niederschmetternde Realität des körperlichen Verfalls zur Kenntnis nehmen müssen. Mein schon seit langem gehegter Wunsch nach einem „Astralleib“, der nach religiöser Lehre den Menschen bzw. dessen Seele umgibt und den Tod des materiellen Körpers überdauert, hat in meinem Leben zunehmend an Attraktivität gewonnen. Aber so einen Astralleib gibt es zu Lebzeiten ja vermutlich nicht und somit muss ich die leidigen altersbedingten Beschwerden wohl noch eine ganze Weile hinnehmen. Andererseits hat das Alter neben dem Umstand, dass man nicht mehr zur Arbeit muss, den nicht zu unterschätzenden Vorteil von Weisheit und Erfahrung. Manche mögen behaupten, dass man den Großteil des im Laufe des Lebens erworbenen Erfahrungsschatzes mangels Gelegenheit gar nicht mehr nutzen kann, doch habe ich schon des Öfteren festgestellt, dass man diverse Lebensweisheiten gelegentlich auch gut an die jüngere Generation weitergeben kann. Vorausgesetzt, sie ist den weisen Ratschlägen gegenüber auch aufgeschlossen, so wie beispielsweise unser Schwiegersohn, der in diesem Jahr unsere Tochter Nora geheiratet hat. Kurz vor der geplanten Hochzeit am 1. Oktober saßen wir noch einmal beieinander, um Einzelheiten der Feier zu besprechen. Philipp, so heißt unser Schwiegersohn, hatte sich einen neuen Anzug und ein dazu passendes Oberhemd gekauft. Ich fragte ihn, ob er denn auch ein für solche Anlässe übliches Kavaliertaschentuch besäße. Er schaute mich fragend an. Ich ging ins Schlafzimmer und holte aus unserem Kleiderschrank einen ganzen Stapel gebügelter Stofftaschentücher. Diese breitete ich wie ein gut gemischtes Kartenspiel vor Philipp aus mit den Worten: „Such‘ Dir eins aus.“ Seine Wahl fiel auf ein schlicht weißes. „Glaub’ mir, damit kannst Du im richtigen Moment kolossalen Eindruck schinden,“ versuchte ich ihn vom Nutzen eines solchen Utensils zu überzeugen. Ich war mir aber keineswegs sicher, ob er meinen Worten auch nur ansatzweise Glauben schenkte.
Wenige Tage später befanden wir uns im Foyer des Braunschweiger Rathauses und warteten darauf, zur standesamtlichen Trauung aufgerufen zu werden. Wegen der Corona-Einschränkungen durfte nur der engste Familienkreis und die Trauzeugen an der Zeremonie teilnehmen. Das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung war zwingend vorgeschrieben.

Nach einer Weile bat uns eine weibliche Angestellte, ihr zu folgen. Wir betraten einen unerwartet großen Raum, an dessen Decke ein kristallener Kronleuchter hing. Die in dem Raum befindlichen Stühle schienen auf die Anzahl der anwesenden Personen abgestimmt zu sein und standen in Corona bedingtem Sicherheitsabstand neben- und hintereinander. Das Brautpaar saß schräg vor mir an einem weißen Tisch. Auf der anderen Seite des Tisches begrüßte uns eine etwa 45 Jahre alte Standesbeamtin in schwarzem Kleid mit auffälligem Blumenmuster.
Die etwa 15-minütige Zeremonie fand in feierlicher Atmosphäre statt und war reich an emotionalen Momenten. Nora hatte ihr Make-Up in weiser Voraussicht mit einem von ihrer Schwester empfohlenen sogenannten Bridalspray fixiert, damit die mühsam aufgetragene Schminke durch eventuellen Tränenfluss nicht verläuft.
Nach und nach näherte sich der Trauungsakt so seinem Höhepunkt und die Standesbeamtin stellte den Brautleuten schließlich nacheinander die obligatorische Frage nach ihrer Bereitschaft, den Bund der Ehe miteinander einzugehen. Nachdem beide dies mit den Worten: „Ja, ich will,“ bezeugt hatten, sah ich, dass Philipp in seine rechte Hosentasche griff und etwas herauszog. Ich nahm an, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen war, an dem die Ringe zum Einsatz kämen. Aber nein, Philipp hatte sein weißes Stofftaschentuch gezückt, um seiner frisch angetrauten Ehefrau damit zärtlich eine Träne von der linken Wange zu wischen. Dies blieb der Standesbeamtin keineswegs verborgen und versetzte sie offensichtlich in pures Entzücken. An Philipp gewandt sagte sie: „Ein wahrer Gentleman und das auch noch mit einem echten Kavaliertaschentuch, alle Achtung!“
Philipp strahlte übers ganze Gesicht. Als wir Minuten später das Standesamt verließen, beugte sich Philipp zu mir hinunter - er ist ein ganzes Stück größer als ich - und flüsterte: „Josef, es hat tatsächlich funktioniert. Dein Tipp war goldrichtig!“ Ich gab ihm einen väterlichen Klaps auf die Schulter und erwiderte lässig: „Siehst Du, hab‘ ich dir doch gesagt!“
Im Anschluss an die Trauung fand die eigentliche Hochzeitsfeier dann im Restaurant „Grüner Jäger“ in Riddagshausen statt. Nach dem Festmahl und meiner Rede als Brautvater entwickelten sich unter den Hochzeitsgästen muntere Gespräche. Auch das Thema Fußball wurde nicht ausgespart. Alle Blicke richteten sich schließlich auf mich, als Philipp mir folgende Frage stellte:
„Nun sag‘ mal, weiser Schwiegervater, wie ist denn dein Tipp für das Spiel unserer Eintracht am Samstag im Derby gegen die Mannschaft aus der Stadt westlich von Peine?“ Noch beseelt von meiner grandiosen Vorhersage in Bezug auf die Nützlichkeit von Stofftaschentüchern sagte ich als erfahrener Fußballexperte einen klaren Eintracht-Sieg voraus. - An dieser Stelle möchte ich die Geschichte beenden und mich lieber wieder meinen zahlreichen Alterswehwehchen widmen. So schlimm sind die eigentlich gar nicht!
Anmerkung:
Dritter Spieltag 2. Fußballbundesliga Saison 2020/2021 (03.10.2020)
95+1 gegen Eintracht: Endergebnis 4:1
(geschrieben am 15.10.2020)
www.joseffesting.de.tl
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